lunedì 20 febbraio 2012

Max Scheler: was ist Wert? (1995)

ABSOLUTE RANGORDNUNG UND RELATIVITÄT DER WERTE IM DENKEN MAX SCHELERS [1] .


Guido Cusinato, Köln 1995


G. Cusinato, Absolute Rangordnung und Relativität der Werte im Denken Max Schelers, in: G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bouvier Verlag Bonn 1997, S. 62-80.





Scheler behauptet, daß die Werte nicht in der platonischen Ideenwelt leben: "Werte sind Tatsachen, gehörig zu einer bestimmten Erfahrungsart". Was bedeutet hier: "eine bestimmte Erfahrungsart"? Die Werte sind "Urphänomene". Aber die Urphänomene sind etwas, das dem Phänomen selbst vorhergeht. Die Urphänome beinhalten etwas Originäres, sie sind das, was das Auftauchen des Phänomens selbst ermöglicht. Sie sind die Bedingungen des Phänomens. Wenn man den Wert nicht als Phänomen, sondern als Urphänomen definiert, will man unterstreichen, daß er keine Qualität, kein sekundäres Attribut der Gegebenheit eines Objektes ist. Indem sie "Urgegebenheit" sind, können die Werte nicht auf die Gegebenheiten eines Objektes zurückgeführt werden.
Denn der Wert geht seinem Objekt vorher: "er ist der erste Bote" seiner besonderen Natur. Wo das Objekt selbst noch undeutlich und unklar ist, kann der Wert bereits deutlich und klar sein. Bei jeder Milieuerfassung erfassen wir z.B. zugleich zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert. Der Wert ist also das, was das Phänomen verkündet und der weiteren Entwicklung seiner Erscheinung Richtung gibt.


[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 62]

1. Mit dem Begriff der Rangordnung führt Scheler den großangelegten Entwurf fort, mit dem er sich der Tendenz einer Aufhebung der Wertunterschiede entgegenstellen will. Die Begriffe Rangordnung und Wert sind nur verständlich, wenn man sie miteinander in Beziehung setzt. Denn das Prinzip, nach dem sich die Rangordnung strukturiert, ist das gleiche, welches bei den Wertunterschieden zum Tragen kommt, und welches, das Wesen des Wertes selbst bestimmt. 
Das erste Ziel meines Beitrags ist, das Prinzip, welches der Struktur der absoluten Rangordnung und der Vielfältigkeit der Wertklassen zu Grunde liegt, zu suchen. Noch 1924 glaubt Scheler an ein "absolutes Ideen- und Wertreich", welches sich oberhalb der Geschichte befindet (8,26); berühmt sind auch Ausdrücke wie "ewige Rangordnung", "ethischer Absolutismus" oder "Gegenstandscharakter der Werte". Diese Ausdrücke setzt er dem, was er 1914 den "herrschenden ethischen Relativismus" nennt, entgegen (1,386). Ausdrücke, die ihm viel Kritik einbrachten, unter anderem von Heidegger, Carl Schmitt, Arnold Gehlen, Ernst Topitsch. Plessner spricht über Schelers Versuch, als eine Sinfonie von Blicken, die auf das Absolute gerichtet sind. Mehrmals stößt man auf den Unterschied zwischen einem Scheler, der zu der "statischen" Idee des Absoluten tendiert, "klar wie jene der mathematischen Astronomie" (10,363), und einem Scheler, der in der letzten Phase von einem dynamischen Absoluten fasziniert ist, welches sich in der Bewegung des gewaltigen Wettersturmes der Welt und der Geschichte verwirklicht. Ein Scheler, der zugibt, daß nicht nur die Sterne, sondern auch die Werte und die Ideen werden und vergehen. Ein Scheler der bemerkt: es gibt im Weltprozeß keine ewigen Formen des Seins, keine absoluten Ideenkonstanten, keine absoluten Prinzipien (vgl. 11,261).
Ein zweites Ziel meines Beitrages ist es, die Auswirkungen des neuen dynamischen Begriffs auf das Problem der Rangordnung und der Werte zu untersuchen. Es ist bekannt, daß die Idee eines unveränderlichen und ewigen Wertreiches, das korrelativ zur Idee eines unendlichen persönlichen Geistes ist, in der späten Phase in Frage gestellt wird. Dies geschieht nicht nur, weil Gott nur am Ende der Geschichte absolute vollkommende Person wird, sondern auch, weil Scheler sich von Augustinus distanziert, dem er die Theorie der Ideen und Werte cum rebus entgegensetzt. Man muß hinzufügen, daß die mittlere Phase weniger massiv vom ethischen Absolutismus geprägt ist, als man annehmen könnte: im Sinne von ewig, allgemein und unveränderlich ist der Absolutismus auf das Prinzip begrenzt, das die Rangordnung der Werte regelt, nicht aber auf die Werte selbst.



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 63]


 Wenn ein Einfluß Husserls auf Scheler bestanden hat, braucht dieser nicht überbewertet zu werden und man sollte weder die Kritik Schelers an den Thesen des "an sich" von Bolzano, noch diejenige an Husserl - selbst noch vor dessen sogenannten idealistischen Wende von 1913 - vergessen. Scheler bestreitet schon in Lehre von den drei Tatsachen an den Primat des Theoretischen, indem er ihm den Primat des Emotionalen entgegenhält. Eine solche Kritik an der intellektualistisch-theoretischen Haltung darf nicht so gelesen werden, als bedeute sie einen Rückfall in den Irrationalismus. In der bedeutenden Schrift Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs stellt Scheler heraus, daß es gerade die übersublimierte, zum Instrument der Herrschaft über die Natur gemachte Rationalität ist, die sich in Irrationalität verwandelt. Der einseitige Prozeß der Rationalisierung hat in der Moderne einen verstümmelten und gehemmten Menschentypus ausgebildet, und es ist dieser Prozeß, den Scheler 1927 eher als Ursache denn als Wirkung jener großen Katastrophe, die der 1. Weltkrieg war, ansieht (9,157). Diese Über-rationalisierung entfesselt schließlich auf der sozialen Ebene lange unterdrückte Triebe und verursacht die Revolte der Natur gegen die einseitige und übersteigerte Intellektualität. Das Werk Schelers strebt nach einer Neufassung des Paradigmas der Rationalität. Und zwar in der Überzeugung, daß das Irrationale genau jener "Rationalität" entspricht, die nicht mit der logique du coeur rechnet. Aus dieser anti-theoretischen Perspektive heraus entwickelt Scheler die Themen Bergsons und Diltheys, die mit dem Leben, dem Erlebnis und der Geschichte zusammenhängen.
Es wäre ein Fehler zu meinen, Scheler berufe sich in der Frage der Werte zuallererst auf Lotze oder die Philosophie der Werte Windelbands und Rickerts. Scheler hat offenbar vielmehr Schelling, Schopenhauer, Nietzsche, Brentano und - über Brentano - Aristoteles im Auge (vgl. § 3.1.). Er hat die Analyse Schopenhauers über das Mitleid und dessen großartige Anstrengung, einen Weg der Erlösung jenseits von Egoismus und principium individuationis zu finden, im Kopf. Er hat die Theorie des Ressentiments von Nietzsche im Auge, eines Nietzsche, der im Vergleich zu Schopenhauer, bezüglich des Problems eines Erlösungsweges, einen Schritt zurück macht. Nietzsche entlarvt aber dafür vor allem die Vernunft-Kategorie sowie die Konzepte von Objektivität, Wahrheit und Moral und erkennt hinter diesen den Willen zur Macht, welcher fähig ist, gemäß seinem eigenen Entwurf eine Sphäre der Realität durch die Nutzwerte zu strukturieren. Die eigentliche Seinsvergessenheit findet für Scheler aber nicht ihren Höhepunkt in der Einführung der Wertfrage in die Metaphysik durch Nietzsches Werk [2] , sondern eher in der Reduktion der unterschiedlichen Wertmodalitäten auf jene des Nutzwertes. Die wirkliche Seinsvergessenheit geschieht für Scheler durch die Wertvergessenheit. Wenn man zugesteht, daß der Wert immer Nutzwert ist, und daß die Seinsart des Wertes die Zuhandenheit ist, wie bei Heidegger, heißt das für Scheler, daß man jene Tendenz bestätigt, die zunehmend versucht hat, die Unterscheidungen der Werte zum Verschwinden zu bringen. Und zwar indem sie jene funktionalen Werte verabsolutiert, die dem Entwurf der modernen Wissenschaft eignen. Nach Schelers Ansicht –



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 64]


zumindest in seiner spätesten Phase - ist nicht einmal die Rückführung der Seinsart der Werte auf die Vorhandenheit, also den Status der ideae ante res motiviert. Tatsächlich sind die Werte nicht gegeben wie etwas bereits im Sehen Vorhandenes, sondern sie werden gefühlt.
[….]

2.1. Wert-sein als Urmodalität und das Prinzip der Korrelation. [4] .
Um die Verbindung zwischen Wert und Rangordnung vollständig zu erfassen, muß zuerst die Interpretation des Wertes als Attribut diskutiert werden. Manfred S. Frings hat bereits klar herausgestellt, daß Scheler im Gegensatz zu Husserl oder Heidegger den Wert nicht als Prädikat interpretiert (Vgl. Frings 1969,1)[5] . Für Scheler ist der Wert nicht etwas, das dem Seienden oder dem Sein von außen zukommt, sondern es ist (zusammen mit Sosein und Dasein) das, was dem Seienden erlaubt, sich zu konstituiren. Das Wesen der Person z.B. ist der ordo amoris, dem eine bestimmte Gesamtheit von Werten entspricht. Diese Werte haben keine attributive Funktion, sondern sind mit dem Wesen verbunden, mit dem tiefsten Kern der Person. Der Wert drückt etwas Ursprüngliches aus [6] .
Ein anderes Problem, das sofort auftaucht, ist jenes des Bezugs zwischen Wert und Qualität: Ist es möglich die beiden zu identifizieren? Ist es möglich, die Relation zwischen Sein und Wert über die Aristotelische Relation zwischen Sein und der Kategorie der Qualität zu interpretieren? Wenn der Wert als letztgegebenes Datum angesehen wird, als irreduzible Grundart des Seins (11,60), dann bezieht er sich auf das Sein, ohne daß eine Vermittlung durch andere Kategorien nötig wäre. Die Werte können nicht mit einer bestimmten Qualitätsart identifiziert werden. Im Übrigen ist es klar, daß die Werte sich in Wertqualität objektivieren können, aber diese sind nicht mit dem Wert zu verwechseln.


[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 65]


[...]


[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 66]


In der letzten Phase kommt Scheler dahin, mit der These der Korrelation schließlich zu verneinen, daß die Werte entweder für sich seiende empirische Objekte oder aber ideale Objekte sind.
Das, was Scheler von Husserl und Bolzano trennt, ist, daß er nicht an den Mythos des Ausdrucks "an sich" glaubt. Scheler streitet ab, daß es ein "an sich" in der Sphäre der physikalischen oder idealen Objekte gibt. In bezug auf die Noesis existiert kein irgendwie geartetes Objekt, das bereits an sich vorausbestimmt wäre, es handelt sich vielmehr - am Anfang - um etwas, das auftaucht und sich durch den Akt, der es hervorbringt, Raum schafft. Ein solcher Akt nimmt nicht eigentlich das Objekt auf, sondern bestimmt den Raum, in dem das Objekt auftauchen oder sich manifestieren kann. Scheler ist damit bereits außerhalb der Philosophie des Subjekts. Das Seiende bezieht sich auf die Gegebenheit gemäß einem bestimmten emotionalen Durchbruch, und umgekehrt taucht alles Gegebene als konstituiertes nur im bezug auf einen emotionale Durchbruch eines bestimmten Zentrums der Realität auf.

2.2 Wert als erster Bote: das "vertere" des Phänomens nach der existenz.
Es gibt einen anderen Punkt, den man sofort angehen muß: jenen der Werte als Gegebenheit. Scheler behauptet, daß die Werte Letztgegebenheiten sind, "Tatsachen, gehörig zu einer bestimmten Erfahrungsart" (2,195). Dieser Typ von Erfahrung fällt nicht mit dem der sinnlichen Erfahrung zusammen. Mit dem Begriff des materialen Wertes stellt sich Scheler gegen Kant, indem er eine Rezeptivität behauptet, die verschieden und umfassender ist als diejenige der Sinnlichkeit. Er stellt sich aber auch gegen Brentano, selbst wenn dieser in den Emotionen, insbesondere der des Vorziehens, den Akt gesehen hat, der die Ethik begründet. Auch Scheler behauptet, daß die Ethik wie bei Brentano die Gefühle, die Kant verbannt hatte, wieder in ihren eigenen Bereich aufnehmen muß. Dennoch stürzt Scheler die intellektualistische These von Brentano um, nach der jeder Akt des Begehrens auf einem Akt des Vorstellens fundiert ist (2,59); und meint im Gegenteil, daß die Akte der dritten Klasse von Brentano sich direkt auf die Gegebenheit beziehen. Erst nachdem das Wert-nehmen [7] erfolgt ist, sind die Akte des Vorstellens und des Urteilens möglich. Einem solchen Ansatz entspricht die wichtige Theorie der Vor-gegebenheit der Werte, derzufolge die Wert-nehmung der Wahr-nehmung stets vorhergeht (8,109). Daß heißt, daß die Gegebenheit nur an der Grenze der Wert-gegebenheit möglich ist. Es scheint also klar, daß jede Gegebenheit nur möglich ist, wenn sie eine Wertkomponente voraussetzt.
Scheler spricht von Werten oder Wertqualitäten wie von Tatsachen oder objektiven Gegenständen (2,261). Hier denkt man z.B. an die Kritik von Topitsch (Vgl. Topitsch, 22-24). Ist es richtig, daraus zu folgern, daß die Werte Gegenstände sind, die eine bestimmte und getrennte Sphäre der Gegebenheit bilden? Ist es sinnvoll, eine Ganzheit von seienden "Werten" und seienden "Nicht-Werten" anzunehmen? 



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 67]

  
Setzt Scheler mit der Theorie der Vor-gegebenheit des Wertes den Wert nicht als Voraussetzung dergesamten Gegebenheit an? Ist es also richtig, die Werte als eine besondere Gegebenheit anzusehen?
Scheler behauptet, daß die Werttatsachen geradezu ein Urphänomen sind (2,258), und daß die Werte als Urphänomen zur Gegebenheit kommen (2,259). Die Urphänomene sind aber etwas, das dem Phänomen selbst vorhergeht, genauso wie die Vor-gegebenheit der Gegebenheit vorhergeht. Die Urphänome be-inhalten etwas Originäres, sie sind das, was das Auftauchen des Phänomens selbst ermöglicht. Sie sind die Bedingungen des Phänomens. Gerade deswegen können sie nicht auf andere Gegebenheiten zurückgeführt werden (2,258). Wenn man den Wert nicht als Phänomen, sondern als Urphänomen definiert, will man unterstreichen, daß er eine apriorische Funktion hat, daß er Element der Vor-gegebenheit, nicht der Gegebenheit ist.
Der Wert geht seinem Objekt vorher, "er ist der erste "Bote" seiner besonderen Natur. Wo "der Gegenstand" selbst noch undeutlich und unklar ist, kann "der Wert" bereits deutlich und klar sein. Bei jeder Milieuerfassung erfassen wir z.B. zugleich zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert" (2,40). Der Wert ist also das, was das Seiende (aber auch das Sein) verkündet und der der weiteren Entwicklung seiner Erscheinung Richtung gibt. Der Wert beschränkt sich nicht darauf, Botschaften zu transportieren, sondern er ist das, was es den Phänomen möglich macht, zu erscheinen, und zeigt sich also direkt verbunden mit der Gegebenheit oder der Selbst-Gegebenheit. Die Wertnuancen eines Gegenstandes sind das Primäre, was uns von ihm zugeht, und gleichsam das Medium, in dem das Bild und die Bedeutung des Objekts auftauchen und sich manifestieren. Die Werte bilden die Offenheit aus, in deren Inneres sich dann die einzelnen Bildgegenstände hineinstellen. Eine solche Offenheit erlaubt ein "konvergieren nach" und leitet damit die Erscheinung aller Qualität der Gegenstände, indem sie sie polarisiert [8] . Charakteristisch für den Wert ist, daß er nicht isoliert ist, daß er immer im Inneren eines Systems, einer Konstellation handelt, und daß er in einer solchen Weise Orientierung erzeugt.
Die Etymologie des Substantivs "Wert" ist umstritten, wahrscheinlich stammt sie aus dem lateinischen Verb "vertere" [9] , ein Verb das viele wichtige Bedeutungen hat, wie jene des "sich richtens", "sich wendens", aber auch jene von "werden" [10] . Die Wertkomponente des Phänomens ist das, was den Blick veranlaßt, sich nach etwas zu richten, gleichzeitig wird im Akt des Wendens des Gesichts und der emotionalen Aufmerksamkeit auf etwas hin, dieses Etwas zum Phänomen. Als Urphänomen bestimmt der Wert dasvertere, wodurch das Phänomen ans Licht kommt. Ein solches vertere ist der Horizont, in dem das Phänomen auftaucht, und gleichzeitig der Ausschnitt, das Fenster, das ein Seiendes in Kontakt zu anderen bringt. Die Wertkomponente ist das polarisierende und orientierende Moment, das das Phänomen in seiner Grenze bestimmt. Es scheint, daß Scheler dazu neigt, die Werte als Transzendentalien zu verstehen, sie jedoch zugleich als Vor-gegebenheiten interpretiert. Dies erscheint nur dann widerspruchlich, wenn man übersieht, daß bei Scheler das Apriori – im Gegensatz zu Kant - material, also empirisch und nicht formal ist.



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 68]

  

3. Rangordnung und Wert
3.1 Die Modalitäten des absoluten und relativen Wertes
Die Interpretation des Wertes als das, was in der Konstitution des Seins und des Seienden die Funktion hat, das Gegebene zur Erscheinung zu bringen, ermöglicht es, ein neues Licht auf das Konzept der Rangordnung und das Problem des Relativismus zu werfen. Scheler unterscheidet eine Relativität erster und zweiter Ordnung: die erste hat mit den Gütern zu tun, die zweite mit den Werten (2,115). Während die Relativität der Güter mit dem Subjektivismus korrespondiert, drückt die Relativität zweiten Grades "die Stufe der Relativität der Werte oder auch ihr Verhältnis zu den absoluten Werten" aus (2,114). Für Scheler ist der Wert im Gegensatz zu den Gütern immer in einem gewissen Grad objektiv: die Werte können absolut oder relativ sein, aber sie sind nie subjektiv (2,114). In diesem Kontext bedeutet "objektiv" nicht universal oder allgemein, sondern empirisch, material, und weist auf Schelers These hin, derzufolge Werte weder ein Produkt unseres Bewußtseins, noch ideale Objekte, unabhängig vom Akt, sind. Eindeutig wichtiger ist allerdings der zweite Typ von Relativität. Jener, der in der These der verschiedenen Wertmodalitäten impliziert ist. Scheler blieb sehr beeinflußt von Brentanos Schrift Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. In dieser Schrift stellt Brentano sich gegen die Kantische Ethik, indem er auf Aristoteles zurückgreift, insbesondere auf dessen Konzept der órexis. Scheler stimmt mit Brentano nicht nur in diesen Punkt überein, sondern er vertieft die Beschäftigung mit Aristoteles noch in anderen Punkten. Wenn Brentano sich um die Klassifikation der psychischen Phänomene kümmert, stellt Scheler eine Klassifikation der Wertmodalitäten ins Zentrum der eigenen Interessen, und bestätigt mehrmals, in seinen Analysen von Aristoteles inspiriert worden zu sein. Schon bei Aristoteles sieht er die Idee von Stufen letzer Wertmodalitäten (das Angehneme, Nützliche, Agathon) (vgl. 10,268; 2,122 und 11,59). Mit der These der unterschiedlichen Wertmodalitäten stellt Scheler sich im übrigen gegen jene Tendenz, die mit Galileo auftaucht und die damit endet, der Aristotelischen Wissenschaft von den Qualitäten einen wissenschaftlichen Entwurf entgegenzusetzen, dem es um die Beherrschung und Verwandlung der Welt geht. Und der nur das als real ansieht, das berechenbar ist, und der nur dadurch funktioniert, daß er die Wertmodalitäten auf jene des Nutzwerts oder des ökonomischen Wertes nivelliert.
Die Tatsache, daß man eine Vielheit von Wertklassen konzipiert, impliziert das Problem, angeben zu müssen, welcher Typ von Relation sich zwischen ihnen stabilisiert. Scheler versucht ein Gesetz zwischen den unterschiedlichen Klassen zu finden, und verortet es im Konzept der Rangordnung. Die Rangordnung ist dem Wert selbst nicht äußerlich: "Eine dem gesamten Wertreiche eigentümliche Ordnung



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 69]


liegt darin vor, daß Werte im Verhältnis zueinander eine "Rangordnung" besitzen, vermögen deren ein Wert "höher" als der andere ist, res. "niedriger". Sie liegt [...] im Wesen der Werte selbst" (2,104).
Scheler spricht von der absoluten Rangordnung im Sinne einer universalen, ewigen und absolut Invariablen, die er als Konstante, sogar als Polarstern der geschichtliche Entwicklung der Menschheit betrachtet. Dies wird für gewöhnlich so verstanden, als wären nicht nur die Rangordnung, sondern auch die Werte ewig und unveränderlich. Auf diese Art und Weise werden zwei unterschiedlichen Dinge durcheinandergebracht. Scheler spricht zwar auch von einer Struktur bestimmter Werte, aber dies geschieht auf der Ebene des Ethos. Es ist eine Struktur, die Scheler auch subjektives oder relatives Apriori nennt, und die dem Gesetz der Funktionalisierung unterworfen ist. Der Begriff der absoluten Rangordnung stimmt nicht ausschließlich mit irgendeiner Wertewelt überein; sei diese endlich wie das Ethos, oder unendlich wie jene Wertewelt, die über die Geschichte gestellt wird. Die absolute Rangordnung ist eher ein absolutes und konstantes Prinzip, das jedes Zusammen von Werten strukturiert.
Wenn Scheler von der "absoluten Rangordnung der Werte" spricht, ist das Subjekt dieses Ausdrucks nicht der Wert, sondern die Rangordnung: diese ist also ein ewiges und absolut Invariables, nicht die Werte. Das, was Scheler mit einem abgekürzten Ausdruck "absolute Rangordnung der Werte" nennt, ist in Wirklichkeit eine "absolute Rangordnung von Wertklassen oder Wertmodalitäten" (2,122). Mit diesem Ausdruck meint Scheler eine ziemlich einfache Regel, derzufolge immer und in jedem Fall ein vitaler Wert höher ist als ein sinnlicher Wert, beziehungsweise ein personaler Wert einem vitalen Wert vorzuziehen ist. Der Akzent fällt nicht auf die Statik des Wertes, sondern auf die ewige, absolut invariable Ordnung, die zwischen den verschiedenen Wertklassen herrscht.
Scheler gebraucht dasselbe Adjektiv "absolut", mit anderer Bedeutung, auch für die Werte und spricht von "absoluten Werten" und erleichtert damit das Mißverständnis seines Gedankens. Am Ende haben viele Scheler-Forscher gedacht, daß Scheler eine absolute Rangordnung der absoluten Werte vorschlägt. Nur weil Scheler von absoluten Wert spricht, ist eine solche Interpretation aber noch nicht begründet, denn Scheler spricht auch von relativen Werten und darüber hinaus von einer einzigen absoluten Rangordnung. Wenn überhaupt, dann meint er eine absolute Rangordnung der absoluten und relativen Werte.
Absolute Werte sind jene, die für ein reines Fühlen gegeben sind, d.h. unabhängig von der Sinnlichkeit und vom Leben (2,115). Der Begriff "absoluter" Wert hat nichts mit einem angenommenen universalen und kontemplativen Charakter des Wertes zu tun, sondern bezieht sich auf den Grad der Reinheit, mit dem der Wert das Phänomen zur Gegebenheit bringt. Es existieren drei Sphären von Gegebenheit. Bei den ersten beiden (natürliche und wissenschaftliche Weltanschauung) funktionieren die Werte als selektierende Filter, die nur einzelne bestimmte Aspekte der Gegebenheit auftauchen lassen. Diese sind die



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 70]


 relativen Werte. Neben der Tatsache der natürlichen und wissenschaftilichen Weltanschauung gibt es auch absolute Phänomene. Hier meint "absolut" "rein" im Sinne dessen, daß eine Tatsache sich vollständig enthüllt und damit zur Selbst-gegebenheit kommt (10,433) [11] . Diese Phänomene setzen absolute Werte voraus.
Die vitalen Werte sind immer relative Werte, sofern sie verstanden werden müssen als ein Fenster, das den Grad der Offenheit zwischen System und Umwelt bestimmt (10,348). Ein solches Fenster lenkt das Interesse nur auf bestimmte Aspekte und läßt andere im Schatten. Die personalen Werte dagegen fallen mit den absoluten zusammen, sofern sie nicht mehr selektive Filter sind, sondern sie öffnen völlig zur Gegebenheit hin. Sie orientieren das vertere des Sich- Gebens. Sie sind, wie Hegel über Goethes Urphänomene sagt, "Fenster im Absoluten". Der relative Wert ist relativ auf ein Zeichen von Etwas, dagegen ist der absolute Wert Zeichen seiner selbst.

3.2 Das Heilige als Prinzip der Rangordnung
Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, die Eingangsfrage zu beantworten, nämlich welches das Prinzip ist, auf dessen Hintergrund sich die Rangordnung der Wertklassen bildet. Auf dem Hintergrund welchen Kriteriums können wir behaupten, daß eine Klasse höher oder niedriger ist als eine andere?
Man könnte denken, daß ein solches Prinzip auf die berühmten Akte des Vorziehens und Nachsetzens zurückführbar sei. Diese aber koinzidieren nicht immer mit dem ewigen Prinzip der Rangordnung. Während Scheler in seinem Aufsatz über das "Ressentiment" "evidente ewige Vorzugsgesetze und eine ihnen entsprechende ewige Rangordnung" (3,69) beschreibt, behauptet er im Formalismus, daß "Die Rangordnung der Werte selbst etwas absolut Invariables ist, während die Vorzugsregeln in der Geschichte noch prinzipiell variabel sind" (2,106). Die Vorzugsregeln sind darüber hinaus jenen Störungsphänomenen unterworfen, die imRessentiment untersucht werden.
Es ist notwendig, erneut zur Eingangsfrage zurückzukehren: Warum ist ein personaler Wert immereinem vitalen Wert übergeordnet? Warum ist ein vitaler Wert der Klasse des Angemehmen/Unangenehmenimmer übergeordnet? In der Rangordnung sind verschiedene Wertklassen vorgesehen. Was ändert sich in diesen Klassen? Was steigert sich, was vermindert sich? Die Ordnung, die zwischen den unterschiedlichen Wertklassen herrscht, muß ein solches Prinzip widerspiegeln.
Der Gipfel der Rangordnung wird von Scheler im Wert des Heiligen bestimmt. Dann gibt es noch die geistigen Werte, die vitalen Werte und schließlich die sinnlichen Werte. Das, was sich hier ändert, ist die Daseinsrelativität. Ein Wert ist umso höher, je größer die Weltoffenheit zum Absoluten hin ist, die er erlaubt. Er ist umso niedriger, je mehr er eine solche Offenheit begrenzt. Während ein sinnlicher Wert nicht das Phänomen als solches zur Erscheinung bringt, sondern nur einen begrenzten Teil des Phänomens, bringen die absoluten Werte das 



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 71]


Phänomen in seiner Vollkommenheit zur Erscheinung. Das Heilige ist nie Symbol für etwas anderes.
Das letzte Prinzip, auf dem sich die Rangordnung gründet, ist die Orientierung zu einem immer weiter wachsenden Grad von Offenheit des vertere hin: von den niedrigen zu den höheren Ebenen spricht sich ein Zuwachs an Fülle aus, mit dem das Phänomen erscheint, bis es jene Ebene erreicht, in der die Gegebenheit zur Selbst-gegebenheit, zum Sich-geben, wird. Ein solches Prinzip, auf dessen Hintergrund sich die Rangordnung strukturiert, ist ein absolutes und ewiges Prinzip, invariant im Lauf der Geschichte. Nach einem solchen Prinzip neigt ein bestimmter Wert, indem er eine bestimmte Offenheit erlaubt, spontan dazu, auf einer bestimmten Höhe wahrgenommen zu werden (auch wenn damit nicht gesagt ist, daß es ihm gelingt). Die Wertrelativität ist mit der Daseinsrelativität verbunden, d.h. sie bezieht sich auf den Grad der Fülle des Sich-gebens. Es gibt verschiedene emotionale Durchbrüche, verschiedene Offenheiten. "Je mehr wir in unserem Bauche leben, desto wertärmer wird die Welt". Das Heil bestünde im Überwinden des Horizontes, der der Triebstruktur eignet, d.h. im Gewinnen einer neuen Haltung, die "zur Welt die Geste der offenen, aufweisenden Hand, des frei und groß sich aufschlagenden Auges" hat.
Die Realität und die ganze Rangordnung der Werte hat als Fluchtpunkt den Wert des Heiligen (2,125). Der Wert des Heiligen erlaubt das Heil als Sich-selbstloslassen im Absoluten mit dem weitesten Grad von Offenheit. Was nur möglich ist jenseits der Erfahrung der Leere und im Ausgang vom Realzentrum der Person. Das Heil besteht im vertere zu dieser unendlichen Offenheit hin, in diesem Akt des vollständig Sich-gebens, der das Sich-Offenbaren des Absoluten empfängt, und die Demut als Bruch der Kette des Triebes vorausetzt. Dennoch versteht Scheler das Heil nicht wie Schopenhauer als noluntas, diese entspricht nur dem de-konstruktiven Moment der phämomenologischen Reduktion. Aber wenn das Lebenszentrum einmal eingeklammert ist, wenn der Mensch sich einmal jenseits dieses Zentrums zutraut, die Erfahrung der furchtbaren Leere zu machen, wenn der Mensch sich einmal vor das absolute Nichts stellt und die Grundlosigkeit erfährt, dann kann der Mensch in sich einen Überschuß entdecken. Dann ruft die Anerkennung, "daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts", Verwunderung hervor und verwandelt sich in einen spontanen Dank für etwas, das als ein Geschenk erscheint. Alles das setzt eine grundsätzliche, existentielle Umkehrung voraus, den Schritt zu einem neuen emotionalen Durchbruch, die jener des personalen Zentrums entspricht. Hier wird das Sich-Offenbaren des Seins zum ersten Mal transparent indem in der Ekstasis die Barriere des Egoismus zerbricht. Der Mensch erhebt sich zur Weltoffenheit kraft der Demut (Heidegger würde Verhaltenheit sagen) und nimmt Teil an der Sphäre des Absoluten.



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 72] 


[...]


[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 73]

 [...]



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 74]




5. Grenzen des Perspektivismus und ideae cum rebus
 Scheler setzt in der mittleren Phase auf der Ebene des Absoluten eine Korrelation zwischen der Wertewelt und Gott als unendlicher Person an. In der späten Phase kann ein neuer Ansatz festgestellt werden, der eine solche Korrelation überwindet, indem er die Idee eines Gottes, der von Anbeginn an eine unendliche Person ist, wie auch die Existenz einer idealen Welt zurückweist. Die Wertewelt wird jetzt "Wert-sein" genannt, die Ideenwelt "So-sein" und beide zeigen sich eng korreliert



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 76]



mit dem Da-sein. Eine solche Korrelation verhindert es, einen dieser Ausdrücke separat zu betrachten. Es gibt also keine Ideen- oder Wertewelt an sich. Wenn die Werte im übrigen über dem agapischen Prozeß des Absoluten bleiben würden, würde man dann nicht gerade in jenen Teleologismus zurückfallen, den Scheler selbst als "haltlosen Un-Sinn" (9,51) definiert? An diesem Punkt sieht Scheler sich gezwungen, sich mit Augustinus auseinanderzusetzen, der versucht hatte, die platonische Ideenlehre mit der christlichen Theorie Gottes als Liebe zu verbinden: "Die ältere, seit Augustinus herrschende Ideenphilosophie hatte "ideae ante res" angenommen, eine "Vorsehung" und einen Plan der Weltschöpfung schon vor dem Wirklichsein der Welt. Aber die Idee sind nicht "vor", nicht "in" und nicht "nach" den Dingen, sondern "mit" ihnen" (9,40). Nach Scheler beruht die "Ideenlehre der platonisch aristotelisch-christlich theistischen Philosophie" auf allen Irrtümern des antiken Idealismus (wie z. B. Bestand eines geschichtslosen Kosmos, Selbst-macht der Idee,ideae ante res, Vorsehung). So Scheler im Band 11: "Sie leugnet eine ontische Ideen-bewegung und sie meint alle Ideenbewegung verlegen zu können nur in die Geschichte des menschlichen Bewußtseins, das an einer "ewigen Ideenordnung" vorbeifließt. Es gibt aber keine ideae ante res, keine Weltplan, unabhängig und vor dem Weltwerden - unabhängig von der Geschichte, die die Welt ist." (11,260). Mehr: die Ideen und Werte sind nicht nur für den Menschen ante res, sondern auch für die Gottheit selbst: "Alle Ideen in Deo sind zeitlich [...]. Vor dem Weltprozeß gab es keine Idee und nach ihm gibt es keine" (11,208). In Bezug auf den letzen Scheler wird die Gleichheit zwischen Werten und Platonischen Ideen (vgl. Topitsch, 25) fragwürdig.
Es scheint für Scheler also klar zu sein, daß es neben dem Perspektivismus notwendig ist, sich dem Problem der Dynamisierung der ontologischen Ebene selbst zu stellen. Die Ebene des Absoluten kann nicht als ein statisches Objekt dargestellt werden, das sich der Menschheit gegenüberstellt, und sich aus unendlichen Perspektiven betrachten läßt. Die absolute Ebene ist nicht Endpunkt des Erkenntnisaktes, sondern seine unerschöpfliche Quelle. Die einzige Sache, die stabil bleibt, ist wahrscheinlich nur das Prinzip der absoluten Rangordnung. Dagegen hängt der Wechsel des Ethos nicht mehr nur von der Unmöglichkeit ab, alle Werte (die eine solche Rangordnung zu ordnen imstande ist) gleichzeitig zu geben, sondern auch von der Tatsache, daß das Absolute, als creatio continua ständig neue Werte hervorbringt. Die creatio continuabestimmt das vertere ein und derselben Selbst-gegebenheit in ihrer Ganzheit, es bestimmt die Grenzen der Gleichzeitigkeit, die Strukturen des Kairos.
Die Thesen der mittleren Phase laufen Gefahr, in die Abbildungstheorie zurückzufallen: die Widerspiegelung war nicht perfekt und somit blieb die Geschichte und die Wesenserkenntnis inadäquat und bedurfte eines ständigen Prozesses des Zuwachses. Der späte Scheler geht direkt auf das Problem zu und behauptet, daß Erkenntnis keine Abbildung ist und daß die Geschichte keine Teleologie ist, weil es keine in sich bestimmten Ideen gibt, die es widerzuspiegeln oder denen es zu folgen gälte. Die Vorhersehung



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 77]



ersetzt Scheler durch die agapische Tendenz, die als Offenheit zum Heil verstanden wírd. Dieser Prozeß ist nicht teleologisch, er ist nur eine Möglichkeit, die versuchsweise abläuft und deren Ziel nicht vorherbestimmt ist. Gott lenkt die Geschichte und die Welt nicht direkt, weil der theistische Gott nicht am Anfang, sondern nur am Ende der Geschichte steht: es ist ein Gott, der kämpft und der die Geschichte und den Menschen braucht, um Person zu werden. Ein Gott, der keine Sicherheiten gibt, sondern Solidaridät verlangt und dazu einlädt, am Prozeß, der zum Heil führt, teilzunehmen.
Das Ens a se formt das Objekt gleichzeitig mit seinem Modell. Es ist kein Demiurg, der die Welt bildet, indem er sie am Vorbild einer Ideenwelt abbildet. Wenn es Ideen oder Werte ante res gäbe, wäre eine solche Schöpfung keine poiesis, sondern nur eine mimesis. Darum - merkt Scheler - "erübrigt es sich aber auch, Idee schon "vor" und unabhängig vom Werden der realen Welt für bestehend, seiend oder "gültig" zu halten. Sie werden "mit" dem Werden der Dinge - ontisch - und nicht vor ihnen. Wie das endliche Sein überhaupt in jedem Augenblick - der absoluten Zeit - hervorgeht aus dem Ens a se, so er-stehen auch in jedem Augenblick aus dem ideenschaffenden Geiste diejenigen Ideenstrukturen - und infolge dessen auch diejenigen einzelnen Idee -,die zur Leitung der Welt in diesem Augenblick notwendig sind" (11,228).
In der Perspektive eines freien und poietischen Seins sind die Werte und Ideen nur cum rebus. Sie sind Ent-würfe, Versuche, die vom Absoluten im Moment gebildet werden: die Idee und der Wert sind das, was der Urgeist gegen den Urdrang als Rettungsanker wirft, um ihn dem Rückfall ins Nichts zu entreißen. Er bietet dies von Moment zu Moment, um dem Urdrang Form und Bestimmung zu geben und sich so mit ihm zu durchdringen.
Wenn es keine Ideen- und Wertewelt ante res gibt, ist die Erkenntnis keine Kontemplation (theoria), sondern sie wird Teilhabe (méthexis), in einer Bedeutung, die wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Begriff der "Mitwissenschaft" Schellings zu verstehen ist. Sie ist Mitvollzug im Sinne eines Versuchs, sich der Aktivität der Schöpfung, jener Brutstätte, die die creatio continua ist, zu öffnen. Aber dies bedeutet auch, daß das, an dem man teilnimmt, sich ständig nach vorne hin verschiebt. Es handelt sich nicht darum, ein Objekt vorzufinden, das unabhängig von unseren kontemplativen Akten ist, sondern darum, am Konstitutionsakt eines solchen Objekts teilzuhaben (11,120). So Scheler: "Darum ist auch unser Mitvollzug dieser Akte nicht ein bloßes Auffinden [...] sondern ein wahres Mithervorbringen, ein Miterzeugen" (9,40). Erkenntnis und Geschichte folgen der Freiheit des unendlichen ontologischen Prozeßes. Auch wenn sie imstande wären, die vollkommende Adäquation zu erreichen, würde die ontologische Ebene schon einen Schritt weiter sein. Es handelt sich nicht nur um einen hermeneutischen, sondern auch um einen ontologischen Prozeß. Keine theoretische Erkenntnis, keine Abbildung oder anámnesis eine statischen Ideenwelt, sonder nur etwas wie die "méthexis" vermag das ständiger Werden des Seins zu verfolgen.



[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 78]



Mit den Worten Schelers bedeutet das im bezug auf die ontische Ebene: "Die Unfähigkeit der menschlichen Erkenntnis beruht keineswegs nur auf subjektiven Gründen; sie beruht vielmehr auf der Unfertigkeit, dem Werdecharakter des Seienden selbst" (11,261). Dasselbe gilt auch für die Geschichte: "Leben und Geschichte lassen sich nicht vorhersehen, aber nicht wegen den Grenzen unseres Geistes, sondern aus ontischen Gründen" (11,233). Wenn es keine creatio continua, keinen ontischen Prozeß gäbe, würde auch keine Geschichte existieren, oder diese wäre auf ein Marionettentheater reduziert. Aber es gibt keine ideae ante res, deswegen ist "der metaphysische Weltprozeß ontisch un-vorhersagbar" (11,261).




Anmerkungen



[1] Dieser Vortrag nimmt einige Thesen vorweg, die sich in meinem demnächst erscheinenden Buch über Max Scheler finden werden.
[2] Heidegger verbindet Seinsvergessenheit und Wertgedanken, um dann zu behaupten, daß der Wertgedanke in der Metaphysik erst und entschieden allein durch Nietzsche zur Herrschaft gekommen sei, vgl. Heidegger 1961,98.
[3] Es handelt sich dabei um die bekannte These der drei Weltanschauungen. Hier habe ich jedoch nach einem anderen Ausdruck gesucht, der die entscheidende Funktion der Emotionen veranschaulichen sollte. Außer "emotionaler Durchbruch" (vgl. 8,104-105) könnte man auf andere Ausdrücke zurückgreifen, wie etwa "emotionales Verhältnis zur Welt" (10,309), emotionale "Einstellung" (10,380), emotionale "Aufschwung" (5,83), "Dispositionen des Gemütes" (11,64) usw..
[4] Scheler sieht zwei unterschiedliche Perspektiven vor: jene der ontischen Fundierung und jene der Ordnung der Gegebenheit. Die erste betrachtet die Art und Weise wie etwas sich konstituiert in bezug auf den Schöpfungsakt, die zweite betrachtet die Art und Weise wie etwas in bezug auf ein reales Zentrum erscheint. Die zwei Ebenen konvergieren insoweit, als ein reales Zentrum (hier als persönliches Zentrum zu verstehen) fähig ist, sich der Welt zu öffnen und an der Sphäre des Absoluten teilzunehmen. Bei Scheler basiert der Erkenntnisprozeß auf dem ontologischen Prozeß, dies geschieht jedoch auf unterschiedliche Weisen und in unterschiedlichem Maß. In bezug auf die These der Vorgegebenheitspriorität des Wertseins meint Scheler: "Obzwar man richtig erkannte, daß Wertsein in der ontischen Sphäre immer nur Wertsein ist eines schon soseinsbestimmten Daseins eines Daseienden, erkannte man nicht, daß in der Ordnung der Gegebenheit umgekehrt das Wertsein es ist, das "vor" dem Sosein und Dasein gegeben ist, und das wir erkennen können (seinem Sosein nach) und als Dasein erfassen können (als Widerstand gegen unsere im Wollen und Aufmerken gegebene "Tätigkeit") nur, was wir und sofern wir es lieben oder hassen, vorziehen und nachsetzen, d.h. fühlen" (11,62).
[5] Heidegger bestimmt die Werte in Sein und Zeit durch die Vorhandenheit, und in Nietzsche durch die Zuhandenheit.
[6] Wie Frings sagt: "Der Wert des Seins ist das Geschenktsein des Seins" (Frings 1979,5).




[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 79]


[7] Ein Neologismus, der dem Wort Wahr-nehmen nachgebildet ist und sehr gut die Position Schelers veranschaulicht: "Alles primäre Verhalten zur Welt überhaupt [...] ist eben nicht ein "vorstelliges", ein Verhalten des Wahrnehmens, sondern [...] primär ein emotionales und wertnehmendes Verhalten" (2,206).
[8] Der Wert ist das, durch das sich die Qualitäten und die Attribute konstituieren.
[9] Das Substantiv "Wert" wird auf das Adjektiv "wert" zurückgeführt, und dieses generell auf "werden" und "Würde" (vgl. F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 22. Auf. 1989,788). Das Verb "werden" seinerseits kommt aus dem lateinischen "vertere" (vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, W. Pfeifer Hg., Berlin 1993, Bd. II,1557 e Kluge, 787). Was die Etymologie des Adjektivs "wert" im von Pfeifer besorgten Wörterbuch angeht, sagt man, daß es "offensichtlich zu der unter werden dargestellten Dentalerweiterung indoeuropäisch uert `drehen, wenden' gehört. Möglich ist unmittelbarer Anschluß an die unter -wärts genannten Formen sowie an lat. versus" (Pfeifer,1559). "Versus" ist das Partizip von lateinischen Verb "vertere" und bedeutet Richtung und Sinn, außerdem leitet sich auch die Nachsilbe "-wärts" vom lateinischen Verb "vertere" ab (vgl. Wahring, Deutsches Wörterbuch, 1986,1411).
[10] (Vgl K.E.Georges, Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Darmstadt 8. Auf. 1985, Bd. II,3439). Hier wird im Folgenden das lateinische Verb "vertere" im Sinne des Sich-Orientierens nach Werten gebraucht.
[11] Das Konzept der Selbst-gegebenheit schließt an jenes der Evidenz an. Normalerweise wird die Selbst-gegebenheit als eigentümliche Evidenz eines Wesens verstanden, das von einem reinen Akt des Geistes ergriffen wird. Dieser Akt hätte also nichts mit der Frage nach den Werten zu tun. Diese Interpretation erweist sich aus mehreren Gründen als problematisch. Scheler behauptet, daß keine Form der Erkenntnis ohne vorhergehende Wert-nahme möglich sei (8,109). Darüber hinaus gerät die Hypothese eines reinen Geist-Subjektes der Wesenserkenntnis in Konflikt mit der These der Ohnmacht: hier reduziert sich der Geist darauf, ein prä-reales Attribut zu sein, das unfähig ist, ohne die Unterstützung des Dranges, auch nur irgendeinen Akt auszuführen, auch jenen der Wesensanschauung nicht. In der letzten Phase hört das Wesen auf, eine reine Schöpfung des göttlichen Geistes zu sein, und verlangt auch nach der Intervention des Dranges: "Das Wesen (als Wesenheit) setzt schon zu seiner Abgrenzug von anderen Wesen das Dasein und den Drang voraus" (11,89; vgl auch 11,250).
[12] Realität wird von Scheler häufig als Dasein verstanden, andere Male hingegen als Konkretion von Sosein, Dasein, Wertsein.
[13] Jede Ebene hat eine eigene Härte, die nur von einem Wert höherer Komplexität druchdrungen werden kann.
[14] Solche Weisen der Teilhabe bleiben aber immer partiell, weil das Absolte immer partiell transzendent bleibt. Dieses ist eine der Hauptthesen des Pan-entheismus.




[G. Pfafferott (Hg.), Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft, Bonn 1997, 80]

  

Literaturverzeichnis

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-Demut und Existenz, in: Die Wertkriese des Menschen, Hg. N. Huppert, Meisenheim am Glan 1979. 
Hartmann N., Ethik, Berlin 1926. 
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Plessner H., Macht und menschliche Natur. Ein Versucht zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, Berlin 1931, jetzt in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979. 
Schelling F.W.J., Die Weltalter, in: SW VII,195-344.
- Erlanger Vorträge, in: SW IX,209-246. 
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Topitsch E., Kritik der Phänomenologischen Wertlehre, in: Werturteilsstreit, Hg. H. Albert und E. Topitsch, Darmstadt 1971, 16-32.

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